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Die Deutschen haben einen Traum gelebt

Die Deutschen haben einen Traum gelebt

Die Geschichte ist alt und hat viele Formen. Eine Märchenversion, die vor zwei Jahrhunderten von den Brüdern Grimm aufgezeichnet wurde, erzählt von einem gewissen einem Ziegenhirten im mitteldeutschen Harz. Eines Nachts führt eine verirrte Ziege den Hirten tief in eine Höhle. Von fremden Männern angelockt, nimmt er einen Trank zu sich und schläft ein. Als er erwacht, stellt er fest, dass nicht Stunden, sondern Jahre vergangen sind. Die Welt um ihn herum hat sich verändert.

Die Verwirrung, die der Hirte empfindet, teilen heute viele Deutsche. Vor einigen Jahren verfiel das angeblich reichste Land Europas in einen Zustand, der zwar nicht ganz schläfrig, aber doch schlafwandlerisch war. Frisch wiedervereinigt und eingelullt von ihrem eigenen wirtschaftlichen und diplomatischen Erfolg haben sich die Deutschen in dem bequemen Glauben eingerichtet, dass ihr System nahezu perfekt funktioniert. Die Regierungspolitik wurde weniger von Pragmatismus als von Selbsttäuschung geleitet, da die Politiker die Wähler mit dem berauschenden Gerede von immerwährendem Wohlstand mit minimalen Reibungen und null Emissionen lockten.

Das Erwachen, als russische Panzer in der nahen Ukraine einrollten, war unsanft. In gewisser Weise befindet sich Deutschland nicht wie der Hirte Jahre in der Zukunft, sondern Jahrzehnte in der Vergangenheit. Anstatt auf einer Autobahn in Richtung liberale Demokratie zu fahren, ist ein Großteil der Welt in einen hässlichen Populismus hineingerutscht, an den sich die Deutschen nur zu gut erinnern. Anstatt eine Ära der friedlichen Zusammenarbeit zu erleben, stellt Deutschland fest, dass Waffen und Soldaten – auch amerikanische – plötzlich wieder gefragt sind. Es stellt sich heraus, dass der deutsche Wohlstand nicht nur auf dem Fleiß der Menschen beruht, wie in der jubelnden Märchenversion, sondern auch auf billiger importierter Energie und Arbeitskraft.

Einfach ausgedrückt: Jahre der Selbstgefälligkeit haben Deutschland in die Bredouille gebracht. Doch selbst wenn sich das Establishment des Ausmaßes seines Dilemmas und der immensen Herausforderung eines Kurswechsels bewusst wird, bleiben die Deutschen seltsam engstirnig und ohne Dringlichkeit. Noch merkwürdiger ist, dass in einem Land, das sich der Offenheit seiner Demokratie rühmt, keine Rechenschaft darüber abgelegt wird, was schief gelaufen ist. Ja, einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wurden zu Recht dafür gescholten, Russland durch eine rosarote Brille zu betrachten. Da stellt sich als erstes die Frage, wer 16 Jahre lang Kanzler war und Deutschland von russischer Energie abhängig gemacht hat. Das wird aber nicht gefragt.

Die Abhängigkeit ist nicht nur entstanden, weil Putin Unternehmen und Politiker mit niedrigen Preisen verführte und so den Anteil Russlands am deutschen Erdgasverbrauch von 30 Prozent vor zwei Jahrzehnten auf 55 Prozent erhöhte. Es wurden auch Entscheidungen getroffen, um das Angebot an Energie aus anderen Quellen zu verringern. Unter den zahlreichen Beispielen für diese Dummheit ist das bekannteste die Kernkraft. Als 2011 ein Tsunami die japanischen Atomreaktoren in Fukushima traf, flippte die Regierung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel aus und schaltete praktisch über Nacht die Hälfte der deutschen Atomstromerzeugungskapazität ab. Für die letzten drei Reaktoren wurde der Abschalttermin für den 31. Dezember festgelegt – ein Ziel, das erst jetzt in Frage gestellt wird, da sich ein lähmender Stromengpass abzeichnet.

Ein Kompromissvorschlag, der den Mangel an Dringlichkeit in der deutschen Politik widerspiegelt, sieht vor, dass die Grünen ihr Beharren auf der Abschaltung der Reaktoren aufgeben, wenn ihr liberaler Koalitionspartner FDP im Gegenzug den Einwand gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen aufgibt. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Na, gar nichts!

Doch das vielleicht größte deutsche Eigentor wurde gegen die eigene Erdgasindustrie geschossen. Deutschlands eigene Gasreserven sind nicht gerade mickrig. Um die Jahrtausendwende förderte Deutschland jährlich rund 20 Milliarden Kubikmeter Erdgas, genug, um fast ein Viertel des nationalen Bedarfs zu decken. Doch obwohl Geologen davon ausgehen, dass Deutschland über mindestens 800 Milliarden Kubikmeter Gas verfügt, ist die Förderung nicht gestiegen, sondern auf nur noch fünf bis sechs Milliarden Kubikmeter eingebrochen, was gerade einmal zehn Prozent des Imports aus Russland entspricht.

Der Grund dafür ist einfach. Fast das gesamte Gas in Deutschland kann nur durch Fracking gewonnen werden, aber die deutsche Öffentlichkeit hat eine irrationale Angst vor Fracking. Doch es ist nicht nur die Angst: 2017 verabschiedete die Regierung Merkel ein Gesetz, das kommerzielles Fracking im Wesentlichen verbietet, obwohl deutsche Unternehmen die Technik seit den 1950er Jahren anwenden und kein einziger Fall von ernsthaften Umweltschäden gemeldet wurde.

Nach den Gründen für die Angst der Öffentlichkeit muss man nicht lange suchen. Im Jahr 2008 schlug Exxon, ein großer amerikanischer Ölkonzern, vor, die Anwendung von Fracking an einem Standort in Norddeutschland auszuweiten. Umweltschützer protestierten dagegen, und die immer einflussreichere Partei der Grünen schloss sich dem Protest an. Auch der kremlnahe Sender Russia Today warnte, dass Fracking Strahlung, Geburtsfehler, Hormonstörungen, die Freisetzung riesiger Mengen von Methan und Giftmüll sowie die Vergiftung von Fischbeständen verursacht. Kein Geringerer als Putin selbst erklärte vor einer internationalen Konferenz, dass beim Fracking schwarzer Schleim aus dem Wasserhahn sprudelt.

Die Deutschen scheinen solche Märchen zu mögen. „Irgendwann haben wir aufgegeben zu erklären, dass Fracking absolut sicher ist“, seufzte Hans-Joachim Kümpel, ehemaliger Leiter des wichtigsten geowissenschaftlichen Beratungsgremiums der Regierung. „Ich kann es den Menschen, die keine Ahnung von der Geologie des Untergrunds haben, nicht wirklich verübeln, da sie nur Horrorgeschichten hören.“

Die deutschen Gasproduzenten sagen, dass sie mit den heutigen noch saubereren und sichereren neuen Fracking-Methoden ihre Produktion in nur 18 bis 24 Monaten verdoppeln könnten. Bei dieser Menge könnte Deutschland noch bis weit ins nächste Jahrhundert hinein Gas fördern. Das ist kein Märchen.

Post source : https://www.economist.com/europe/2022/07/21/germans-have-been-living-in-a-dream

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